Unter dem Deckmantel der Nacht
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Eine Waldhütte. Das Meer. Die Klippen. Ein Tagebuch. Die Nacht vor der Sonnenwende. Und über allem die Vögel. Mit diesen Zutaten mischt Lucy Foley auf hohem sprachlichem Niveau einen düsteren Thriller, der ab der ersten Sekunde in seinen Bann zieht und trotz seiner vielen Seiten innerhalb von wenigen Stunden verschlungen ist.
Aus vier verschiedenen Erzählperspektiven werden die Lesenden zunächst in den Schauplatz der Handlung eingeführt: Ein neues Hotel soll an der malerischen Küste Englands eingeweiht werden, die heiße Sommerluft flirrt vom Zauber eines Neubeginns, das Personal und die Gäste blicken gespannt einem großen Mitternachtspicknick entgegen. Doch noch bevor das Geschäft richtig anrollen kann, löst sich dieser Traum in einer riesigen Rauchwolke auf. Kurz darauf wird eine Leiche entdeckt. Was ist geschehen?
Schon früh tritt Bella als Sympathieträgerin und Dreh- und Angelpunkt der Geschichte auf. Sie übernachtet in der ominösen Waldhütte 11 des Hotels und lässt von Beginn an ein Geheimnis vermuten, das sie unwiderruflich mit dem Ort und seinen Bewohner*innen verbindet. Nach und nach deckt sie in Rückblenden Erinnerungen an ihren Jugendsommer auf. Ebenso experimentiert der ganze Roman mit Zeitsprüngen, die durch den klugen Erzählstrang jedoch keinerlei Probleme bereiten. Mehr und mehr drängt sich die Frage auf, welches Ereignis vor 15 Jahren die Hauptfiguren nun schon so lange begleitet und solch einen großen Einfluss auf die Vorfälle in der Gegenwart hat. Es wird schnell klar, dass niemand die Person ist, die sie zu sein vorgibt.
„DIE VÖGEL SEHEN ALLES.“
Immer wieder klingt eine Sage über die Vögel an, die als eine Form von Gesetzeswächtern für Recht und Ordnung im Wald sorgen, stets im Verborgenen handeln – und vor allem keine Untat vergessen. An ihnen haftet das Bild von rigoroser Rache, auch wenn nie ganz klar wird, ob dieser Bund wirklich existiert. Dennoch sorgt er für Unruhe und bündelt immer wieder die Aufmerksamkeit der Betroffenen, die sich auch zunehmend in Bellas Tagebucheinträge schleichen. Die Interessen(-skonflikte), Erlebnisse und Gedankengänge der einzelnen Erzähler*innen sorgen schon für sich stehend für große Spannung, in Kombination miteinander entspinnt sich aber ein noch größeres Konstrukt aus Macht und Lügen, das trotz seiner sprachlichen Leichtigkeit einige unerwartete Plot-Twists hervorbringt. Anders als im klassischen Whodunit geht es aber um viel mehr: Es geht um menschliche Abgründe, die Auslotung von Grenzen und die Kraft von ewiger Schuld. Welche Seite verbirgt die Hotelbesitzerin Francesca vor ihrem Ehemann Owen? Wieso pflegt Owen so eine enge Beziehung zum Ort des Geschehens? Welche Bürde schleppt der Angestellte Eddie mit sich herum? Und wieso ist Bella wirklich zurückgekehrt?
Lucy Foley beherrscht die Kunst, detailreich zu erzählen und dabei einen intensiven Spannungsbogen aufzubauen, anstatt in die Langeweile zu drängen. Ihr Buch spielt mit Trugschlüssen, schickt zuvor gebildete Annahmen auf eine wahnwitzige Reise und lässt die Hitzigkeit dieses Mittsommers dabei beinahe fühlen. Dieser Thriller macht durch die fein dosierte Mischung aus Spannung, Überraschung und Gefühl unbedingt Lust auf mehr und ist allen zu empfehlen, die Spaß an der Entwirrung mysteriöser Verstrickungen haben, aber dabei lieber auf blutige Brutalität verzichten.
von Theresia Seisenberger

Lucy Foley
Mittsommer
Aus dem Englischen von Ivana Marinović
Penguin Random House 2025
480 Seiten
17,00 Euro
ISBN 978-3-328-60400-6