John von Düffel übernimmt zur Spielzeit 2025/26 die Intendanz des ETA Hoffmann Theaters in Bamberg. Als Autor und Dramaturg arbeitete er an verschiedensten Theatern, zuletzt am Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Theater Berlin. Gast- und Poetik-Professuren hielt er ebenfalls inne, so auch seit 2014 die Professur für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste.
Rezensöhnchen: Wir starten ganz klassisch: Was hat Sie bewogen, sich für die Intendanz an diesem Theater, an diesem Standort zu bewerben?

John von Düffel: Da gibt es natürlich ganz viele Faktoren und Ebenen. Was mich immer wieder in dieser Entscheidung bestätigt: Bamberg ist eine Stadt, in der Theater, in der Kultur wirklich noch eine große Rolle spielt. Wo das Theater die Chance hat, Mittelpunkt einer kulturellen Auseinandersetzung oder eines Stadtgesprächs zu sein. Ich habe ja in vielen großen Städten mit großen Häusern gearbeitet, und das Gefühl, das ich in Bamberg hatte – noch bevor ich überhaupt daran dachte, mich hier zu bewerben –, dass die Stadt in ihrer Größe und das Theater in seiner Größe eine gute Entsprechung sind. Das bietet die Möglichkeit, eine Begeisterung im Haus zu erzeugen, die sich nach außen überträgt und vom Publikum wieder zurückkommt, das erfüllt sich gerade in so vielen Momenten. Die Abonnentenzahlen haben sich gesteigert. Wir haben inzwischen 450 Abonnent*innen hinzugewonnen. Das spricht für einen ganz großen Vertrauensvorschuss und auch für das große Interesse an Theater. Bamberg ist keine Stadt der Indifferenz. Und das war für mich ganz maßgeblich.
RS: Es ist interessant zu sehen, dass da so viel Nachfrage da war und ist. Das ist schon auch ein schönes Willkommen.
JvD: Absolut. Ich bin dafür sehr dankbar, weil das natürlich auch ein Zeichen dafür ist, dass das Theater gewollt ist. Ein Abo ist ein erstaunlicher Vertrag, den man mit dem Theater eingehen kann. Da sagt man: Ich vertraue euch fünf oder sechs Abende meines Lebens an und glaube einfach mal, dass es toll wird.
RS: Es gibt im Theater viele Aufgaben, unter denen man sich gut etwas vorstellen kann. Zum Beispiel Schauspiel, Bühnenbild, Regie. Was machen Sie in Ihrer Rolle als Intendant?
JvD: Eine große Aufgabe ist erst einmal die Programmgestaltung. Darin drücken sich natürlich die Interessen, die Überzeugungen aus. Also: Was findet man ästhetisch wichtig, was ist künstlerisch gemeint, was sind die Themen, was sind die Inhalte und Formen, die man dem Publikum nahebringen möchte und für welche Art von Theater, für welche Art von Schauspielkunst steht man. Das ist vergleichbar mit einer Form von Richtlinien- und Programmkompetenz. Das ist der künstlerische Intendanzbereich, und dann gibt es natürlich den anderen Bereich: Zu einem Theater sagt man immer „das Haus“, aber das Haus ist eigentlich gar nichts. Es sind die Menschen und insbesondere natürlich das Ensemble. Dafür die richtigen Schauspielerinnen und Schauspieler in eine Konstellation zu bringen, die richtigen Ideen dafür zu haben, was sie spielen sollen und dafür die richtige Regie, die richtigen Ausstatter*innen zu engagieren, das fällt alles mit in meine Verantwortung. Das heißt also, ich habe auch diese Personalverantwortung. Das hat künstlerische Dimension, denn alle müssen gut zusammenarbeiten können, gut zusammenpassen. Das hat aber natürlich auch eine zutiefst menschliche und soziale Dimension. Es geht schließlich auch um Jobs, um Geldverdienen, um Lebensgestaltung, um Karrieren. Auch dafür bin ich natürlich zuständig, mit all den freudigen und auch manchmal traurigen Momenten, die das beinhaltet. Dass man sich manchmal von Leuten trennen muss. Dass man auch Leute freudig umarmen kann, wenn man sagt, ich engagiere dich. Oder auch, dass einem Leute, die man gerne engagiert hätte, sagen, tut mir leid, aber für das Geld komme ich einfach nicht.
RS: Sie treten ja die Nachfolge einer Person an, die das Haus hier schon lange geführt hat. Wie möchten Sie das ETA hier in Bamberg jetzt unter Ihrer Führung prägen?
JvD: Für mich ist wichtig, dass das Theater vor allem als ein Raum, also als poetischer Raum gesehen wird. Als ein Ort, in dem Welt beschrieben wird, in dem Geschichten über Menschen erzählt werden. Wo man Menschen erlebt – das, was Theater besonders kann, das sind ja immer Geschichten in Räumen. Weil wir auch als Zuschauerinnen und Zuschauer in diesem Raum mit den Schauspielern zusammen sind. Das ist auch das Besondere am Theater, dass man es insofern als Zeugin oder Zeuge erlebt, weil man im selben Raum sitzt. Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer machen sich nicht klar, wie präsent sie für die Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne sind. Jeder Schauspieler spürt ganz genau: Welche Erwartungen werden einem gerade entgegengebracht? Hören die Leute zu? Sind sie dran? Sind sie nicht dran? Fangen sie an zu husten? Oder sind sie atemlos? Und diese besondere Art der Wechselwirkung im Moment hat damit zu tun, dass die Leute das Gefühl haben, es steht gerade etwas auf dem Spiel, es geht gerade um etwas. Mir ist es sehr wichtig, dass dieser poetische Raum aufgeladen ist mit einer Dringlichkeit und es trotzdem jeder Person ermöglicht, eine ganz eigene Meinung dazu zu entwickeln. Ich möchte kein Theater machen, in dem meine Ansichten, meine Bewertungen des Ganzen schon mit eingeschrieben sind. Sondern ich möchte die Dinge so genau wie möglich beschreiben, so tief wie möglich, so berührend wie möglich, so empathisch wie möglich. Aber das Urteil, die Bewertung, vielleicht auch die politische Meinung, die soll sich das Publikum bilden, die will ich dem Publikum nicht vorgeben. Deswegen heißt der poetische Raum auch, dass ganz viel der Meinungsbildung beim Publikum liegt.
RS: Auch ohne eine Meinung vorzugeben, setzen Sie ja schon eine bestimmte Richtung an, nämlich mit der Programmauswahl. Deswegen die Frage: Welchen Fokus möchten Sie bei der Programmauswahl setzen? Im Programm der neuen Spielzeit fällt auf, dass recht viele Klassiker dabei sind, ein ganz leichter Überhang und mehr als in vergangenen Spielzeiten. Wie sehen Sie das?
JvD: Es sind natürlich große Geschichten und auch starke Titel. Dadurch entsteht auch ein großer literarischer Bezug zu Thomas Manns Felix Krull, über Gerhart Hauptmanns Ratten oder Macbeth zum Beispiel. Gleichzeitig aber ist mein Anspruch, dass die Modernität nicht nur in der Auswahl der jeweiligen Stücke oder Stoffe liegt, sondern in der Art und Weise, wie sie erschlossen werden. Da sehe ich das Theater als Vermittler, aber auch als Verwandler. Es geht nicht nur darum, die großen Stoffe des Kanons im Sinne eines Bildungsauftrags wiederzugeben, das auch. Aber ich glaube, eine Vermittlung wird nur lebendig, wenn sie auch eine Verwandlung ist. Also wenn sich das Übertragen auch zu einer Transformation steigert. Ein konkretes Beispiel ist Macbeth: Das ist natürlich so ein Shakespeare-Kanon-Stück und gleichzeitig spielen wir es mit zwei Personen in einer Konzertform mit Musik, mit einer auf den Kern verdichteten Textfassung. Überhaupt keine normale Shakespeare-Aufführung. Doch dabei geht es immer um den Inhalt. Also wir haben jetzt nicht eine tolle Formidee und sagen: Die klatschen wir jetzt da drauf. Sondern mein Prinzip ist immer „Inhalt first“. Man beginnt beim Inhalt und dann fragt man sich, wie man ihn erzählen kann. Ich habe zum Beispiel in meinem ganzen Leben noch keine Macbeth-Aufführung gesehen – und ich habe schon viele gesehen –, wo ich mich nicht in den letzten beiden Akten gelangweilt habe. Deswegen frage ich mich: Wie kann man diesen wirklich wahnsinnig tollen Inhalt so erzählen, dass das nicht passiert und dass man eine lebendige Form, eine atmende Form findet, so eine Geschichte heute zu erzählen, ohne dass man alles brachial aktualisiert. Das mag in dieser theoretischen Umschreibung schwer vorstellbar sein, aber vielleicht können wir ja später in der Spielzeit noch einmal reden. Dann wissen Sie hoffentlich, was ich meine.
Nochmal zu dem, was vielleicht auch ein bisschen konservativ anmutet an dem Spielplan: Wir haben ja sehr viele junge Autorinnen und Autoren, die die Stoffe nochmal überschreiben und ihre Perspektive einbringen. Die Ratten beispielsweise, eine große Milieu- und Sozialgeschichte von Gerhart Hauptmann, wird durch die Augen eines türkischstämmigen Schauspielers, Regisseurs und Autors erzählt werden, der in 60 Jahren als Migrant in Deutschland wirklich alles erlebt hat, was man nur erleben kann, auch zu Zeiten, wo es noch gar kein Bewusstsein dafür gab, was das bedeutet. Das ist, glaube ich, nochmal eine besondere Aufladung. Oder wenn eine junge Autorin wie Paula Kläy mit ihrer eigenen poetischen Sprache so einen Text wie Thomas Mann überschreibt, ergibt das nochmal eine ganz andere literarische und auch theatrale Ebene. Insofern sieht das Programm vielleicht manchmal ein bisschen klassisch aus, aber es wird, glaube ich, durch die Art und Weise, wie damit gearbeitet wird, eine Neubegegnung. Es wird einem nicht viel bekannt vorkommen, im Sinne von schon da gewesen.
RS: Haben Sie denn bei der Programmgestaltung bestimmte Zielgruppen im Kopf, die Sie ansprechen oder vielleicht auch neu für das Theater gewinnen möchten?
JvD: Es gibt schon einen ganz starken Fokus darauf, etwas Verbindendes zu suchen. Das Theater hat ja in einer Stadtgesellschaft die Kraft, Menschen zusammenzuführen, und wegzugehen von der Polarisierungsmanie, die wir ja durch die medialen Formen von heute erleben. Theater ist das Gegenteil davon, es will Menschen zusammenführen und Begegnungen ermöglichen. Gleichzeitig geht es um Konflikte. Konflikte sind im Theater Reibungen, die zum Motor des Abends werden. Wenn man zusammen einen Theaterabend erlebt, werden wir sozusagen zu Teilnehmenden an diesem Konflikt, ohne dass wir uns streiten oder Partei ergreifen müssen. Wir verbinden uns mit dem Geschehen und der Geschichte. Und das ist das Wichtige. Ich kann es konkret machen, am Beispiel der Unendlichen Geschichte. Das ist eigentlich im ersten Teil ein klassisches Weihnachtsmärchen. Wir spielen es aber auch noch mit dem zweiten Teil und der zweite Teil ist fast so eine Art Shakespearsches Welttheater, was für Kinder ab sechs gar nicht mehr so unbedingt geeignet ist. Wir haben dann die Altersstufe hochgesetzt, aber auch gesagt Eltern und Großeltern, alle inklusive. Es ist also Mehrgenerationentheater und das meine ich eben: Das Verbindende. Insgesamt ist die Vision, dass man die Geschichten so erzählt, dass sie von verschiedensten Generationen und verschiedensten Herkünften, Lebensformen oder sozialen Stufen heraus erlebbar werden.
RS: Sie hatten jetzt schon ein paar Mal von der Erfahrung des Publikums gesprochen, von der Meinung, die man sich vielleicht bildet, von Reibungen, die entstehen… Ich war im Nürnberger Schauspielhaus in einem Stück, bei dem es nach der Vorstellung noch eine Diskussion gab mit Beteiligten und dem Publikum. Dabei konnte man sich mit dem Stück auseinandersetzen und solche Reibungen konnten dann auch an die Oberfläche kommen. Planen Sie irgendein Format in diese Richtung?
JvD: Ja, wir haben eine Reihe, die nennt sich Das lebende Programmheft und das war schon lange mein Traum. Das Programmheft in gedruckter Form ist für mich immer ein bisschen tote Materie. Also natürlich nimmt es im besten Fall die Person mit nach Hause und blättert es nochmal durch, liest vielleicht was nach und guckt sich die Bilder nochmal an, aber das bleibt solistisch. Das lebende Programmheft ist ein Angebot, dass wir immer auch einen Inhalt vorstellen, zusätzlich zu dem Stück, um das es vor allen Dingen geht. Bei Kafka beispielsweise haben wir das erste lebende Programmheft. Wir lesen nochmal Bericht für eine Akademie von Kafka, das ist jetzt im Stück, im Abend selbst nicht enthalten, aber es ist natürlich ein wichtiger Kafka-Text. Es machen zwei Leute aus dem Ensemble und die Dramaturgie und ich, wir sind auch da und stehen dann im Anschluss den Leuten, die das Stück schon gesehen haben, und denen, die es vielleicht noch sehen wollen, für Fragen, aber auch für Kritik oder Eindrücke oder auch für Auseinandersetzungen zur Verfügung. Das kann natürlich am Abend selbst sein, das spricht dafür, dass es eine große Unmittelbarkeit hat, aber ich glaube, es verdient auch einen eigenen Raum, es verdient auch einen eigenen Rahmen, dass man sich mit dem Publikum nochmal in eine andere Art von Auseinandersetzung bringt. Ich hoffe, dass es auch da den ein oder anderen Dialog oder auch mal Streitgespräche gibt, wo vielleicht auch Zuschauer*innen sagen, das habe ich nicht verstanden oder das fand ich doof oder das hat mir den Abend kaputt gemacht oder ich sehe das ganz anders oder Kafka ist für mich viel mehr David Bowie als die Figur, die ihr da gezeichnet habt.
RS: Das heißt, die jeweiligen Veranstaltungen der Reihe sind angesetzt, wenn das Stück immer noch läuft, aber nach der Premiere. Also man kann schon im Stück gewesen sein, aber man kann es sich auch danach noch ansehen?
JvD: Es ist eine Art Bonusprogramm, wo man sagt, ich lerne noch ein bisschen was zu dem Autor oder zum Stück, ich lerne auch Leute kennen, die an dem Stück beteiligt sind. Also ich habe eine Begegnung, ich habe einen Inhalt, aber ich habe auch die Möglichkeit, meine Meinung dazu zu äußern.
RS: Einige Stücke, die aus vor Ihrer Zeit stammen, werden weitergeführt. Was waren die Beweggründe dafür? Die Leiden des jungen Werther eignet sich zum Beispiel bestimmt gut für Schulklassen. The Legend of Georgia McBride – die Matthew-López-Stücke scheinen ein Dauerbrenner hier in der Region zu sein, auch in Nürnberg laufen sie schon seit Jahren. Bei Die Welt im Rücken hatte man das Gefühl, das ist wirklich ein Stück für Leute, die sich auch mit dem ungemütlichen Theater auseinandersetzen wollen. Die Location im Gewölbekeller hatte auch eine besondere Atmosphäre, bestimmt auch für den Schauspieler, der das Stück ja allein stemmt. Was waren Ihre Gründe, warum Sie diese drei Stücke weitergeführt haben?
JvD: Es gab immer verschiedene Gründe. Das eine ist einfach die Qualität – ich finde, Marek Egert, der ja einmal den Werther und Die Welt im Rücken spielt, hat einfach die schauspielerische Qualität, in diesen ganz unterschiedlichen Texten der Literatur so eine authentische, ehrliche Energie zu erzeugen, dass es ihm bei der Auseinandersetzung damit auch wirklich um etwas geht. Die Gefährlichkeit zum Beispiel dieser Psychose des Grenzgängertums von Thomas Melle, die hat sogar auf eine Art etwas mit Werther zu tun. Deswegen finde ich, sind es fast zwei Facetten dieses Schauspielers. Natürlich gibt es bei Die Leiden des jungen Werther den Aspekt Schule, und die Theaterpädagogin berichtet, dass danach immer wieder gefragt wird. Aber ich hätte es nie gemacht, wenn ich das Gefühl hätte, es ist künstlerisch nicht satisfaktionsfähig. Es ist eine sehr, sehr ehrliche, sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Werther. Wenn ich der Schule etwas zurufen möchte, ist es nicht: Hey Leute, kommt mal, dann erspart ihr euch vielleicht drei Briefe aus dem Werther, ihr könnt das alles sehen, dann ist es in einem Abend in der Kiste. Sondern die Botschaft wäre: So kann man sich mit dieser Sache auseinandersetzen, so ehrlich und persönlich kann man an die Sache rangehen. Das gilt eigentlich auch für die Arbeit von Marek Egert und Tim Adam, dem Regisseur, bei Die Welt im Rücken, dass sie so eine starke Verbindung zu dem Text aufgebaut haben, dass ich wirklich sagen muss, das ist nicht die Aufbereitung eines Textes, es ist eine ganz tiefe, persönliche Art des Einsteigens in diesen Wahnsinn. Und das im Gewölbe, es ist wirklich ein ganz besonderer Abend. Was mich bei The Legend of Georgia McBride besonders berührt hat, ist die Kraft des Drags. Das ist die Kraft der Verwandlung und die Kraft der Verwandlung ist auch die Kraft des Theaters. Dass Drag so viele Kräfte, Emotionen, Gefühle aufruft wie Theater, das ist mir an dem Abend klar geworden, auch in der Art und Weise, wie das Daniel Seniuk, die Kolleginnen und Kollegen spielen, das ist einfach eine Wucht. Wenn ich diese Kraft abwürgen würde, könnte ich mir das nie verzeihen. Die Weiterführung dieser Stücke ist auch ein Zeichen der Wertschätzung für die Arbeit von Sibylle Broll-Pape und auch des Ensembles, was ja zu zwei Dritteln auch geblieben ist. Also das ist ja jetzt nicht so nach dem Motto, wir können alles besser und vorher war alles schlecht. So sehe ich das überhaupt nicht.
RS: Auf die Programmgestaltung können wir ja relativ leicht von außen blicken und feststellen, was im Programm gleichgeblieben ist und welche neuen Stücke dazu gekommen sind. Wie ist es denn hinter den Kulissen? Was ist ein Aspekt, den Sie beibehalten und einer, den Sie ändern wollen?
JvD: Ans Theater zu gehen, und zwar, ob man jetzt Tischler ist oder Beleuchter oder im Kostümbereich tätig ist, das ist immer eine Entscheidung. Das Theater ist ja wirklich ein kleines Abbild der Gesellschaft: Von den Leuten, die die Hauselektrik machen, von den Pförtnerinnen und Pförtnern bis hin zur Theaterleitung sind das ganz unterschiedliche Ausbildungswege, Berufe, Arten, Welt zu erleben, aber eben auch zu arbeiten. Aber es hängt von allen ab, dass sich am Abend ein sinnhaftes Erlebnis ergibt, dass man sagen kann: „Wir erreichen die Zuschauer, die Zuschauer geben Feedback, und das, was wir tun, lebt.“ Deshalb geht man zum Theater, nicht nur ins Theater als Zuschauerin oder Zuschauer, um einen großen Abend zu erleben, sondern beruflich, um einen großen Abend zu machen und irgendwie ein Teil davon zu sein. Das ist das Wichtigste, was ich vermitteln möchte. Und das hat mit ganz vielen manchmal kleinen Zeichen zu tun, dass man sagt: Wir versuchen eine Nähe zu schaffen zwischen Ensemble und Mitarbeitenden, zwischen den Theaterverantwortlichen, die auch Entscheidungen treffen, und denjenigen, die vor allen Dingen dann beschäftigt sind, diese Entscheidungen umzusetzen. Das ist mir wichtig, deswegen wollte ich nie an so ein großes Haus, wo ich allein um die Namen aller Mitarbeitenden wirklich zu verinnerlichen ein halbes Jahr brauche, sondern an ein Haus, wo es einfach eine Unmittelbarkeit im Begegnen gibt. Deswegen ist es auch so schön, dass hier am ETA-Hoffmann-Theater wirklich alles beisammen ist. Wenn ich morgens ins Büro gehe, sehe ich die Leute in den Werkstätten und wir sagen uns guten Tag, und wenn irgendwas nicht gut läuft, dann sagen wir uns das auch. Es gibt keine langen Wege, und das heißt, es gibt eine Nahbarkeit. Das hilft dann auch beim Entscheidungentreffen, weil ich die nicht abstrakt einsam von irgendeinem losgelösten Standpunkt aus treffe, sondern sozusagen aus dem Zuhören, aus dem Erleben, aus dem Miteinander mit den Mitarbeitenden.
RS: Der neue Anstrich, den Sie dem Haus verleihen, ist ja auch visuell sehr präsent geworden. Wir haben uns die Website angeschaut, sie ist schwarz-weiß gehalten, wirkt gleich so ein bisschen theatralisch. Dann ist es viel minimalistischer vom ganzen Design her. Was waren da Ihre Beweggründe? Natürlich will man dem Ganzen neue Optik vergeben, aber warum genau diese?
JvD: Ich finde, Sie haben es toll beschrieben. Also eine Einfachheit, eine Klarheit ist mir wichtig. Ich bin selber kein Digital Native und ich will, wenn ich eine Website anklicke, diese verstehen – vor allem die, die ich am meisten anklicken muss, nämlich unsere. Ich will sehen: Ah, das sind die Termine, das gibt es Neues, das sind die Schauspieler, und das hat eine einfache Sprache, die mich einlädt und es mir möglich macht, an die Inhalte und an die Informationen ranzukommen. Natürlich ist es auch eine Reaktion auf Bamberg gewesen, was eine relativ bunte Stadt ist, dass wir gesagt haben, okay, das Schwarz-Weiße ist vielleicht nochmal so eine Sprache der Nüchternheit, der Klarheit, der Theatralität, das fällt auch auf. Wenn wir bunt auf bunt machen, dann geht es gewissermaßen im Farbrausch unter. Was Sie als minimalistisch oder sozusagen asketisch oder vielleicht streng beschreiben, hat natürlich auch ein bisschen was mit Theater zu tun, weil es so eine elementare Kunstform ist. Es ist ja nicht so, dass wir wie ein Film mit Millionen von Details arbeiten können, sondern es ist immer eine Konzentration auf das Wesentliche. Und man kann, glaube ich, an der Website auch schon ablesen, dass die Schauspieler sehr, sehr wesentlich sind und dass wir versuchen, den Fokus darauf zu lenken. Wir haben für das Design der abstrakten Symbole der Stücke eine ganz tolle Grafikerin gefunden, die nur 250 Meter Luftlinie vom Theater entfernt wohnt. Wir haben sowieso nach dem Local Hero Prinzip gearbeitet, also geguckt, wer ist hier, wer hat eine Beziehung zum Haus, wer kann uns auf dem Weg auch so nah begleiten, dass man das Gefühl hat, das ist jetzt nicht nur ein Auftrag, sondern ein Weg, den man zusammen zurücklegt, eine Weggemeinschaft. Die Grafikerin hat ein assoziatives Prinzip. Das ist ja schon eine Art Kunst, also Plakatkunst. Da finde ich, ist das Recht des Assoziierens stärker als das Recht, zu verstehen, ah, das ist jetzt damit gemeint und das soll das bedeuten. Bei der Hainbad-Revue kann man denken, ah, das sind die Kabinen oder die Dächer von den Kabinen. Muss man aber nicht denken, weil es wirklich ein Assoziationsangebot ist. Es ist also künstlerischer gedacht. Und vielleicht ist das auch der Untertext. Es ist kein Plakat, das marktschreierisch ist, sondern einem ein Angebot macht für eine künstlerische Wahrnehmung.
RS: Auf welches Stück sind Sie am meisten gespannt?
JvD: Das ist tatsächlich Die unendliche Geschichte, wegen der programmatischen Botschaft. Michael Ende erzählt ja sozusagen von den Büchern als Phantásien. Die Reise in ein Buch ist der Weg, den die Menschen mit ihren Nöten, Erfahrungen, Fragen gehen, um dann aus dieser Reise durch die Lektüre wieder zurückzukehren in ihr Leben. Er beschreibt, wie dieses Phantásien, also die Welt der Fantasie, bedroht wird durch das immer weiter um sich greifende Nichts. Deswegen ist Phantásien ja in Aufruhr und es ist der Appell an Menschen, ihre eigene Kreativität mit in die Wahrnehmung, ins Lesen, ins Zuschauen zu nehmen. Deswegen war das für mich so ein zwingender Stoff, und ich war davon überzeugt, das müssen alle Generationen sehen, weil das Theater aus meiner Sicht Phantásien ist. Wir sind ein fantastischer Raum, und wir laden die Leute zu uns ein, um mit dem, was sie assoziieren, was sie denken und fühlen, auf diese Reise zu gehen. Genauso wie die Phantásienwelt sind wir auch bedroht von dem Nichts: Man kann da jetzt Haushaltslöcher reinlesen, aber was ich noch viel schlimmer finde, ist die totale Gleichgültigkeit gegenüber Kultur, Kunst und Literatur. In diesem Sinne sind wir Phantásien. Wir sind ein Ort zur Bekämpfung der Gleichgültigkeit.
RS: Haben Sie vom Ensemble und auch vom Haus an sich gespiegelt bekommen, ob es eine Produktion gibt, auf die sich am meisten gefreut wird?Die Calderón-Spiele sind wahrscheinlich immer das Highlight, einfach aufgrund der Location … Oder sind es die Stücke, wo möglichst viele Schauspielende gemeinsam auf der Bühne stehen, weil das etwas Verbindendes hat? Aber auf der anderen Seite – vielleicht ist es auch fürs Haus toll zu wissen, dass so ein Stück wie zum Beispiel Die Welt im Rücken im Gewölbekeller so eine starke Wirkung hat, auch wenn man selbst nicht unbedingt auf der Bühne steht.
JvD: Ich glaube, dass das Besondere an der Eröffnung nicht nur die Erstbegegnung mit dem Publikum ist, unter diesen neuen Vorzeichen, sondern auch eine Art von Erstbegegnung der Schauspielerinnen und Schauspieler miteinander. Das gilt sicherlich für Kafkas Erzählungen, mit denen wir versuchen,den Kosmos von Kafka erzählen, nicht nur eine einzelne Erzählung oder eine Geschichte wie Die Verwandlung oder Das Urteil. Aber ein wesentlicher Grund, das anzusetzen und zu montieren als Fassung war, dass wir die unterschiedlichen Schauspielerinnen und Schauspieler, die ja in dieser Konstellation noch nie zusammengespielt haben, zusammenzuführen. Und auch immer zu denken: Wer könnte mit seinen Qualitäten, mit seinen Eigenheiten, mit seiner Spielweise für diese Rolle oder Aufgabe richtig sein und welche Art von Ästhetik können wir da zusammen erzeugen? Deswegen ist das, glaube ich, für das Ensemble gerade das Aufregendste, weil es wirklich auf sie zugeschnitten ist. Natürlich kennen wir uns alle noch nicht so gut, nach drei Jahren werden wir uns alle besser kennen, aber es ist die Zusammenführung dieser verschiedensten Menschen in einer großen Reise durch Kafkas Universum. Und da ist, glaube ich, vom Ensemble her die größte Aufregung oder Erregung. Wie kommen wir da zusammen? Zu welcher Form von Zusammenspiel finden wir da?
RS: Trotzdem ist ja Das letzte Bier das erste Stück, das die Saison eröffnet. War das einfach von Ihnen ein Hint an Bamberg als Bierstadt oder warum geht es damit los?
JvD: Ich hatte das Glück, dass ich mitbekommen habe, auf geheimen Kanälen sozusagen, dass Jaroslav Rudiš das Buch Gebrauchsanweisung für Bier schreibt, für den Piper Verlag in der Reihe Gebrauchsanweisungen. Da dachte ich, wenn es einen Autor gibt, der Bier-Experte ist und auch wirklich ein ganz großer Literat, dann ist das Jaroslav Rudiš. Wenn er für Bamberg ein Stück über Bier schreibt und unser erster ETA-Hoffmann-Hausautor wird, dann wird das so einen Fokus erhalten, dass wir es mit dem Rest des Programms ein bisschen schwer haben, wenn wir das nicht oft genug ansetzen. Und deswegen habe ich gedacht, wir machen diese Voraufführung, wir spielen die Uraufführung, wir machen dann eine Vorstellung, noch eine Vorstellung, damit sozusagen der Bierstau mal abgearbeitet ist. Es ist aber natürlich auch als Geste gemeint. Ich bin ja zum Beispiel kein Biertrinker und freue mich, wenn es Leuten Freude macht und wenn sie damit auch eine kleine Lebensphilosophie verbinden. Für mich ist Biertrinken ein Beckett-hafter Vorgang. Und Gott sei Dank hat Jaroslav Rudiš das auch eher wie so eine Art Bier-Beckett erzählt und auf diese Art und Weise, glaube ich, dass selbst die Biertrinker noch ein bisschen verwandelt werden, wenn sie in den Abend gehen.
RS: Sie haben uns jetzt ja schon verraten, auf welches Stück Sie in dieser Spielzeit vielleicht am gespanntesten sind. Gibt es noch ein Stück, das Sie unbedingt mal in Bamberg auf die Bühne bringen wollen, das es aber dieses Jahr nicht geschafft hat?
JvD: Also bei den Calderón-Festspielen habe ich wirklich eine Reihe von Ideen. Vor allem, weil ich gerne diesen Ort auch mehr, als es vielleicht bisher der Fall war, als solchen zur Geltung bringen möchte. Für mich ist die Alte Hofhaltung eine wesentliche Figur dieser Freilichtspiele, und ich habe nach ganz vielen Stücken gesucht, bei denen die Hofhaltung einfach mehr mitspielen kann in den Inszenierungen. Da ist der Zerbrochene Krug jetzt ein Anfang, den kann man sich in dem Rahmen, auch mit der historischen Kulisse, ganz gut dort vorstellen. Aber es gibt noch so viele tolle Stoffe, die eben auch die Hofhaltung zum Mitspieler eines Stückes machen. Da habe ich noch viele Träume.
RS: Weil wir es vorhin auch vom Gewölbekeller hatten: Der Großteil der Stücke nutzt ja nur das Große Haus und das Studio. Haben Sie vor, den Gewölbekeller – weil das ja auch so eine besondere Location ist – mehr zu nutzen?
JvD: Wir müssen jetzt erst mal gucken, wie es in unseren Kräften ist. Vielleicht ist das auch nochmal wichtig zu sagen: Wir spielen deutlich mehr. Wir fangen ja die Spielzeit auch früher an. Und ich hoffe, dass das als die Sehnsucht nach einem echten Austausch mit dem Publikum gelesen wird. Gleichzeitig muss ich immer ein bisschen darauf achten, dass ich die Schauspieler, aber auch die technische Mannschaft und das Haus nicht überfordere. Ich habe eine große Lust und Neugier auf den Austausch mit dem Publikum. Und ich muss gucken, welche Kräfte sind noch da. Aber das Schöne, und deswegen ist mir Die Welt im Rücken so wichtig gewesen, ist ja auch eine Botschaft nach innen. Es ist die Botschaft, dass es sozusagen graswurzelmäßig, also vom Ensemble her wachsend, Räume geben kann im Haus. Da ist für mich auch nicht die Top-Down-Struktur gefragt, sondern es ist eher die Frage, was an Kräften und Energien da ist, von denen ich jetzt vielleicht auch noch gar nicht weiß und die wir unterwegs noch miteinander entdecken. Insofern ist das Gewölbe für uns ein Ort, wo Sachen entstehen können, von denen wir jetzt noch nichts wissen. Und die dann aber hoffentlich auch so wachsen und dann lange leben, wie Die Welt im Rücken lange leben möge. Deswegen war es mir auch wichtig, das Gewölbe in der Eröffnung gleich dabei zu haben und zu sagen, da können solche Abende stattfinden.
RS: Sie haben jetzt ja immer wieder betont, wie wichtig Ihnen der Austausch ist. Das heißt, dürfen wir annehmen, Sie lassen die erste Saison vorüber gehen, holen sich Ihr Feedback von jeglichen Seiten ein und dann wird das wahrscheinlich die weitere Programmauswahl beeinflussen?
JvD: Unbedingt. Man sagt ja normalerweise, dass erst die dritte Spielzeit wirklich diese Frage-Antwort-Struktur hat. Ich würde das auch so beschreiben, dass das Programm erstmal ein Angebot ist, es ist aber auch eine Frage an das Publikum. Also: Was könnt ihr damit anfangen, was ist euch daran wichtig, worauf legt ihr dann wiederum Wert? Der Spielplan der zweiten Saison wird versuchen, so viel wie möglich von der Wechselwirkung mit aufzunehmen. Das wird auch oft missverstanden, es geht nicht darum, Publikumsbedürfnisse zu befriedigen, sondern sich miteinander in Bewegung zu setzen. Also wir wollen – man sagt immer, die Zuschauerinnen und Zuschauer da abholen, wo sie sind – aber keiner weiß genau, wo die stehen, sondern wir machen ein Angebot und dann gibt es eine Reaktion darauf. Ich habe natürlich jetzt schon sehr, sehr viel sehen können, ich habe ja alles gesehen, was in den letzten eindreiviertel Jahren auf der Bühne stattgefunden hat. Ich habe auch oft das Publikum erlebt, ich finde, es ist eine Riesenchance, weil es so eine Erreichbarkeit gibt. Gleichzeitig kann es auch sein, dass ich mich bei dem einen oder anderen täusche, das gehört dazu. Denn jedes Kennenlernen ist auch ein Voneinanderlernen. Deswegen haben wir zum Beispiel auch bei der Hainbad-Revue ganz bewusst gesagt, jetzt erzählen wir mal die Geschichten, die das Publikum uns erzählt. Denn wenn wir sagen, unser Spielzeitmotto ist „Viel zu erzählen“, dann heißt das eben auch nicht nur, wir haben viel zu erzählen, sondern auch die Stadt hat viel zu erzählen. Wir wollen dem einen Raum geben. Das ist vielleicht auch ein bisschen sinnbildlich für den Dialog, den ich mir vorstelle, dass wir versuchen, die Geschichten, die uns dann auch wiederum erzählt werden, oder das, was das Publikum an Feedback gibt, nochmal neu zu verstehen und anders weiterzuerzählen.
RS: Also Stücke, die nicht nur das Publikum da abholen, wo es steht, sondern Stücke, die das Publikum ebenfalls einen Schritt weiterbringen. Da kann ich Ihnen erzählen, da wir durch die Pressekarten ja immer mit die besten Plätze bekommen, sitzt man natürlich oftmals neben den auch mitunter betagteren Leuten, die sich eben ein Abo leisten können. Eine ältere Dame hat mir mal ganz lieb erzählt, dass es für sie auch wichtig ist, dass sie jung bleibt und dass sie auch in Stücke geht, die sie fordern. Ich dachte aus meiner jungen Position, die älteren Leute, die wollen die Klassiker, die konservativen Stücke, wo sie nicht viel umdenken müssen. Aber auch da ist der Wunsch danach da, dass man an so einem Stück wachsen kann und einfach andere Perspektiven aufgezeigt bekommt.
JvD: Auf jeden Fall. Darum geht es. Das Theater entwickelt sich und wächst auch an seinem Publikum. Es wird immer so getan, als hätten wir jetzt in irgendeiner Weise so eine Art Wissens-, Erfahrungs- oder Ästhetikvorsprung. Natürlich tragen wir eine gewisse Verantwortung und natürlich sind wir diejenigen, die den ersten Impuls geben. Aber ich habe sehr oft erlebt, dass das Publikum – da nehme ich das Bamberger Theater mal aus – manchmal wesentlich klüger war als der Theaterabend. Das heißt also, beide Seiten können in ein Wechselspiel eintreten, und es ist überhaupt nicht gesagt, auf welcher Seite mehr Erfahrung, mehr Geschichte, mehr Wissen oder Klugheit ist.
RS: Eine abschließende Frage zum Feedback. Sie haben diese Reihe, in der Sie auch in den Austausch mit dem Publikum gehen wollen. Dann nehme ich an, dass Sie sich auch in den Premieren-Pausen oder in den Vorstellungen oder auch danach einfach unter die Massen mischen werden und da ein bisschen nachfragen. Wie kommen Sie genau an das Feedback, das Sie jetzt ja immer so angesprochen haben? Natürlich werden Sie die Kritiken auch lesen, aber die sind ja von Leuten, die explizit für die Kritiken die Vorstellung besuchen. Das ist ein so kleiner Teil von den Leuten, die an sich die Veranstaltungen besuchen. Wie kommen Sie dann so richtig an die breite Masse des Feedbacks?
JvD: Genau, die Kritiken sind eine ganz spezielle und, wenn man so möchte, eine privilegierte Form der Meinungsäußerung. Und das, was Sie gesagt haben, betrifft die Ansprechbarkeit, die Präsenz und Greifbarkeit fürs Publikum. Da gehe ich mit. Nach der Aufführung kann man auch Mails schreiben, Briefe schreiben und so weiter, aber ich glaube, noch tiefer beschäftigt mich, was während der Aufführung passiert. Das heißt, wenn ich im Zuschauerraum sitze, und das ist das, was ich als Dramaturg ja über 30 Jahre gemacht habe, man spürt in jeder Sekunde, ob es die Leute interessiert, ob die Leute das Spiel an sich ranlassen, ob sie da mitatmen oder ob sie anfangen zu husten, ob sie wirklich das Interesse haben oder nur denken, oh, das muss jetzt irgendwie interessant sein und ich applaudiere mal vorsichtshalber. Die größte Ehrlichkeit findet eigentlich im Theatermoment selbst statt. Ich denke oft, irgendwann schreibe ich mal das Theater des Publikums. Die eigentlichen Aufführungen finden ja im Zuschauerraum statt. Wenn man das so in der Vorstellung sitzend beobachtet, dann hat man eigentlich schon sehr viel über das Publikum und vom Publikum gelernt. Es gibt auch überhaupt nicht das Publikum, sondern es gibt diesen wunderbaren Satz von Brecht: „Man muss schon ganz schön hart arbeiten, um aus Zuschauern ein Publikum zu machen.“ Eine solche Gemeinsamkeit kommt erst dadurch zustande, dass der Abend auch eine Gemeinsamkeit stiftet. Erstmal sind es sehr verschiedene Menschen, also unterschiedlichsten Alters und so weiter, die da zusammensitzen und die vielleicht erstmal ganz wenige Schnittmengen haben, sozial und von ihrem Lebenshorizont her. Und auf einmal entsteht ein gemeinsames Interesse, doch das muss der Abend erstmal wachrufen. Dann ist die Frage, wie führt er das weiter, wie entwickelt er das? Hat er genug Kraft und inneren Reichtum, um die Leute bei der Stange zu halten? Wo geht das Publikum plötzlich wieder auseinander und wann sind es nur noch wieder Zuschauer? Gehen wir als Zuschauer auseinander oder gehen wir als Gemeinschaft auseinander? Das sind ja alles sehr unmittelbare Phänomene, die man beobachten kann, und deswegen werde ich in vielen Aufführungen sitzen und meine Publikumsstudien treiben.
RS: Sie saßen ja jetzt, meinten Sie, in den letzten eineinhalb Jahren auch öfter schon mal hier im Publikum. Sind Ihnen da Momente in Erinnerung geblieben oder ein allgemeiner Eindruck, ich sage jetzt nochmal, des Publikums in Bamberg?
JvD: Ja, sehr unterschiedliche Sachen. Im Studio habe ich mich wirklich immer wahnsinnig gefreut über die riesige Neugier und Einlassungsbereitschaft, auch bei komplexeren Stoffen oder bei ästhetischen Ansätzen, die vielleicht auch sehr unkonventionell waren. Im Studio, muss ich sagen, war eigentlich das ideale Studiopublikum. Im Großen Haus hatte ich den Eindruck, dass es sehr unterschiedliche Publikumsbedürfnisse gibt. Auch eine ganz große Sehnsucht nach Unterhaltung oder nach Lachen, Spaß, Musik und gleichzeitig aber auch eine sehr fordernde Ernsthaftigkeit. Das Große Haus, die Menschen, das Publikum da zusammenzuführen, ist nochmal eine größere Aufgabe, nicht nur aufgrund der Vielzahl, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass der Raum selbst nicht so definiert ist als Experimentierraum, sondern dort denkt man schon, okay, jetzt müsste eigentlich doch die Komödie kommen oder es müsste der Klassiker kommen. Ich glaube, dass der Raum tatsächlich durch den Inhalt oder durch die Geschichte selber nochmal seine Eigenheit, seine eigene Sphäre werden muss. Im Studio ist das schon viel mehr gegeben oder im Gewölbe. Das Gewölbe hat natürlich einfach schon so eine eigene Aura, eine eigene Ausstrahlung. Wenn man sich da reinbegibt, ist man schon in einer Art Tunnel. Das Große Haus, da ist glaube ich am meisten Arbeit zu tun, dass die Menschen das Gefühl haben, wir sind jetzt alle in dieser Welt.
RS: Das finde ich richtig spannend, denn ich habe das auch selbst mitbekommen. Ich kann mich noch sehr gut an den Zweiteiler Das Vermächtnis erinnern. Als ich danach an der Garderobe stand, habe ich auch mehrere Stimmen hinter mir vernommen, wo die einen gesagt haben, das ist ja furchtbar, es ist so traurig, das zieht einen total runter und andere, die das dann so wie ich sehr geschätzt haben, dass es trotzdem diesen schweren und wichtigen Stoff transportiert. Wie Sie sagen: die Ansprüche oder auch die Erwartungshaltung, die man hat ans Theater, wie das auseinander gehen kann und dass man versuchen muss, das zu vereinen. Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt. (alle lachen)
RS: Wir besprechen ja unter anderem Bücher, Filme und aber auch Theaterstücke. Sie haben schon oft selbst angesprochen, wie wichtig auch die Stellung von Kunst ist, und dass man sich das beibehält, wie wichtig Sie das finden. Was charakterisiert für Sie gerade Theater als Medium für Kunst zum Beispiel? Sie haben auch selbst Romane geschrieben, aber was genau fasziniert Sie am Theater oder wo sehen Sie die Chance des Theaters als gespielte Stücke Stoffe zu vermitteln?
JvD: Im Punkt der Lebendigkeit. Lebendigkeit meint nicht nur, dass es wie eine Art Bibel anschaulich und leicht fassbar gemacht wird, sondern Lebendigkeit heißt auch, dass es überraschend ist. Ich würde sagen, das kreative Moment am Theater ist deshalb schön, weil es soziale Kreativität ist. Es ist nicht die Kreativität eines Einzelnen, es ist wirklich die einer Gemeinschaft. Dass wir uns im Machen überraschen. Dass ein Stoff, den man vielleicht schon ein, zwei Mal gesehen hat, plötzlich auf eine ganz andere Art und Weise erreicht, berührt, manchmal auch verstört. Dass es eben auch einen Moment von Unberechenbarkeit im Theater gibt. Das hat auch was mit dem zu tun, was ich vorhin meinte über den Raum. Dass man dasitzt, und wenn es ein Buch wäre, hätte man vielleicht schon nach drei Seiten gesagt, ach, ich lese es ein anderes Mal. Aber da man im Theater dann rausgehen, Mantel holen, weggehen müsste – denkt man eher: Ich warte jetzt mal, und man gibt dem Abend nochmal fünf Minuten, und plötzlich macht es Peng und man ist drin. Also dieses Gefühl, dass man wirklich vom Theater überrascht und wohin gebracht wird, wo man am Anfang des Abends noch nie dachte, dass man dort jemals landen würde, das ist etwas, was mich an dieser Kunstform immer wieder so begeistert. Und wo ich auch denke, ich mache das jetzt schon so lange und ich weiß immer noch nicht, wie es geht. (lacht)
RS: Diese Lebendigkeit wird selbst bei einem Buch oder Film nicht so deutlich. Ich muss wieder auf Die Welt im Rücken zurückkommen, ich fand es so beeindruckend, wie Marek Egert da wirklich mit allem um sich geschlagen hat und dann dieses Hoch und Runter – es war wirklich total greifbar und das hat man in einem Film nicht. Man ist vielleicht auch ergriffen durch die Filmmusik, aber nicht in dem Ausmaß wie im Theater.
JvD: Ja, und diese Unmittelbarkeit, also auch von einem Schauspieler wie Marek, das erzeugt eine Realität, und man ist mit dieser Realität im selben Raum. Natürlich sind die Geschichten fiktiv, aber die Beziehungen, die dann entstehen zwischen den Spielenden haben eine Realität. Und ich bin sozusagen dabei, wenn es passiert. Das Theater kommt da ohne große Geschmacksverstärker aus. Wenn ich bedenke, auf wie viel Proben ich gesessen habe bei null Musik, bei schlechter Beleuchtung und die Momente passieren trotzdem. Beim Film wird so viel gemacht, bis überhaupt gedreht wird. Für 90 Sekunden Film, wenn man gut ist, braucht man einen Drehtag. Was da alles gekünstelt und manipuliert wird – da ist Theater schon sehr viel purer und unmittelbarer. Und wie gesagt, es sind auch immer noch Entscheidungen von Kollegen am Abend, zu sagen, ich gehe dich jetzt so an, ich mache das jetzt so. Und auf einmal passiert wieder was, wo ich denke, ich habe die Aufführung schon fünfmal gesehen, aber das habe ich noch nie gesehen. Es ist einfach eine unvergleichliche Kunstform.
RS: Schön, dass Ihre Begeisterung so durchkommt. Das ist bestimmt hilfreich für den Job. (lacht)
JvD: Ja, sonst wäre ich auch nicht mehr hier. (lacht)
RS: Sie haben ja auch mal als Theater- und Filmkritiker gearbeitet. Was macht denn eine gelungene Kritik für Sie aus?
JvD: Also ich war ein ganz schlechter Kritiker. Ich wollte einfach nur zum Theater. (alle lachen) Es war für mich die beste Ausrede, um so viel Theater wie möglich sehen zu können und so viel wie möglich mit Theater in Kontakt zu kommen. Ich wollte nie Kritiker*in werden, sondern ich wollte einfach so viel wie möglich im Theater sein und zuschauen können, weil ich das einfach liebe. Deswegen war ich wahrscheinlich auch ein ganz schlechter Kritiker. Aber das war mir auch vollkommen egal, weil ich das alles erleben konnte. Ich hatte echt Glück, dass ich in sehr spannenden Zeiten in Freiburg mit ganz tollen Regisseuren erleben konnte, wie Theater sich entwickelt. Ich habe einfach nur auf den Moment gewartet, und sobald ich irgendwie nur ein Zipfelchen selbst in diese Wagenburg Theater reinkonnte, habe ich das dann genommen und das Kritikersein hinter mir gelassen. Aber ich war, wie gesagt, nie auf Kritik gepolt, sondern immer auf Empathie.
RS: Vielen herzlichen Dank für die ganzen Antworten. Das war sehr, sehr spannend. Wir sind gespannt, ob wir Ihnen dann in der ein oder anderen Premierenpause wieder begegnen.
Das Interview wurde am 03.09.2025 von Johanna Ammon und Michaela Minder geführt.