Von einer ziellosen Reise und dem Finden der Lyrik
—
Benjamin Myers’ erzählt in Offene See von einem Jungen, der nach der Schule und nach dem Krieg in die Freiheit flüchtet, denn beides unterscheidet sich für den Protagonisten im Roman kaum. In den 40er-Jahren geht Robert Appleyard also auf eine ungewisse Reise, um sich selbst zu finden, aber auch seinem Schicksal für gewisse Zeit zu entkommen, das ihn in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters und damit in ein Bergwerk führen soll. Doch sein Abenteuer endet schneller als gedacht, als er in einem abgelegenen, zugewucherten Häuschen in der Nähe der ostenglischen Küste auf Dulcie Piper trifft.
Sie ist eine Frau, die sich von den Deutschen nicht ihre Teegewohnheiten verbieten lässt, und auch von sonst Niemandem irgendetwas. Im Gegenzug für köstliches Essen aus exotischen Lebensmitteln, die sie von wie auch immer gearteten Bekanntschaften aus aller Welt bezieht, sagt Robert der wuchernden Wiese und einer verfallenden Hütte den Kampf an. Wann immer er sich nicht seinen selbstauferlegten Arbeiten widmet, unterhält er sich mit der abenteuerlichen Dulcie, die gar nicht so ist wie alle anderen, die Robert in seinem 16-jährigen Leben bisher kennengelernt hat. Sie erzählt von den Zeiten vor dem Krieg, aufregenden Kulturen, spektakulären Fakten und eigenartigen Menschen. Diese Frau scheint alles zu wissen, zu allem eine Meinung zu haben und nur in Verbindung mit Lyrik zu rauchen. In ihrem Haus lernt Robert das Lesen zu schätzen, die Lyrik zu lieben, und er findet ein ganz besonderes Manuskript. Eines, das Dulcie noch viel bedeuten wird. Denn Robert entdeckt nicht nur das Manuskript für Offene See, sondern auch die Geheimnissen, die darin schlummern.
Ein Gedicht über das Sterben, aber ein Buch über das Leben
Ich habe manchmal die Angst, dass mit jedem Buch, das ich lese, die Wahrscheinlichkeit geringer wird, eines zu finden, das mir noch den Atem rauben kann. Die Angst wird immer unbegründet sein, aber kein Buch hat sie mir so genommen wie Offene See. Benjamin Myers schafft beides gleichzeitig: Einen Roman, den man nicht aus der Hand legen kann und eine Geschichte, bei der man jeden Satz zweimal lesen muss. Nicht, weil man sie nicht verstanden hätte, sondern weil sie so schön und unaufgeregt ist, sodass man nicht möchte, dass sie jemals endet. Gleichzeitig ist das Aufeinandertreffen von Roberts Unbeholfenheit und Dulcies feministischer, spannender und selbstbewusster Art so dermaßen lustig, dass ich mit spontanen Lachanfällen meine Mitbewohnerin mehrmals zu Tode erschreckt habe.
Lasst euch von den ersten 25 Seiten nicht täuschen. Manchen Leser*innen könnte es schwerfallen, sich an den bildhaft poetischen Schreibstil zu gewöhnen, aber es lohnt sich. Es lohnt sich wahrhaftig und lässt einen bleibenden Eindruck zurück!
von Theresa Ehrl
—
Benjamin Myers
Offene See
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Dumont 2021
268 Seiten
12,00 €